Naturwissenschaft im alten China

Naturwissenschaft im alten China
Naturwissenschaft im alten China
 
Die Entwicklung der Naturwissenschaft nahm in China - im Gegensatz zum Westen, wo sie sich zwischen dem 4. und 14. Jahrhundert gewissermaßen zurückbildete, um erst seit dem Beginn der Neuzeit ihren Siegeszug anzutreten - einen kontinuierlichen Verlauf. Den völligen Neuansatz durch eine nüchterne, experimentelle Beobachtung der Natur unter Verzicht auf jede ihr vorangehende Theorie, wie ihn Europa in der Renaissance fand, hat China von sich aus jedoch nie vollzogen. Die naturwissenschaftlich-technischen Leistungen Chinas übertrafen bis ins 16. Jahrhundert hinein, generell gesprochen, diejenigen Europas beträchtlich. Drei klassische Belege können dafür gemeinhin angeführt werden: im 8. Jahrhundert die Erfindung des Buchdrucks, der vom Buddhismus durch das Versprechen hoher, das menschliche Leben prägender Verdienste für jede Form der Verbreitung heiliger Schriften indirekt gefördert wurde, im 9. Jahrhundert die Entdeckung des Schießpulvers, das allerdings erst ein paar Jahrhunderte später zu militärischen Zwecken verwendet wurde, und schließlich im 10. Jahrhundert die Erfindung des Kompasses, der sogleich für See- und Landreisen eingesetzt wurde. Seit dem 16./17. Jahrhundert überholte der Westen mit seinem grundsätzlich anderen naturwissenschaftlichen Vorgehen China dann aber sehr rasch.
 
Die traditionelle chinesische Bildungsschicht widmete der Naturwissenschaft viel Aufmerksamkeit: An den Anfang der Kultur verlegte sie das Auftreten von »heiligen Erfindern«, die meist zugleich als mythische Kaiser fungierten, zum Beispiel Shennong, der »Göttliche Landmann«, der als »Erfinder« des geregelten Ackerbaus angesehen wurde. Es war ihr also völlig bewusst, dass die Kultur einer materiellen und damit auch einer naturwissenschaflichen Basis bedurfte. Das betraf allerdings zunächst nur die konfuzianische Tradition. In der daoistischen waren mindestens vom Ansatz her auch technikfeindliche, ja sogar zivilisationsfeindliche Tendenzen feststellbar. Dafür zeugt beispielsweise in dem Buch »Zhuangzi« eine Geschichte, in der ein Bauer bewusst die Verwendung eines Mühlrades zur Feldbewässerung ablehnt, weil solch eine Maschine beim Benutzer ein »Maschinenherz« erzeuge, und der zivilisatorische Fortschritt durch die erwähnten »Erfinder« wird in manchen daoistischen Texten als eine Vertreibung aus dem Paradies der Natur gebrandmarkt. Später spielte jedoch gerade der Daoismus mit seinem Naturinteresse für die Entwicklung der Naturwissenschaft auf vielen Gebieten eine Führungsrolle.
 
Die Grundhaltung der gesamten chinesischen Gelehrtenschaft gegenüber der Natur ging - anders als die der modernen westlichen Naturwissenschaften - von einem »organischen« Weltverständnis aus, in dem wie in einem »Feld-System« jedes nur vorstellbare Element mit jedem anderen in einer unvermeidlichen Wechselwirkung steht. Diese Idee lag schon der Konzeption der dunkel-weiblichen Grundkraft Yin und der hell-männlichen Grundkraft Yang zugrunde, die bereits um die Wende des zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrtausend im »Yijing« (»Buch der Wandlungen«) auftauchen, und in der der seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelten Wuxing, »Fünf Wirkkräfte« (»Elemente«: Erde, Holz, Metall, Feuer, Wasser), die beide, unabhängig von allen weltanschaulichen Verschiedenheiten, als Grundlage jeder naturwissenschaftlichen Theoriebildung angesehen wurden. Für die »organische« Auffassung von der Natur scheinen vor allem zwei Gründe verantwortlich gewesen zu sein: Erstens die bewusst vernachlässigte oder besser gesagt einfach nicht akzeptierte Trennung zwischen Geist und Materie, die sich am deutlichsten in dem für alle Naturwissenschaften grundlegenden, genau genommen unübersetzbaren Begriff »qi« (etwa »Ätherstoff«), niedergeschlagen hat, der für die Beschreibung stofflicher ebenso wie geistiger Vorgänge diente; zweitens die grundsätzliche Zurückhaltung gegenüber der Vorstellung von festen, unverrückbaren »Gesetzen«, und zwar sowohl im staatlich-sozialen Leben als auch im Bereich der Natur - ein Misstrauen, das durch das Gewaltregime der Qin-Dynastie grundgelegt worden war, in deren »legalistischer« Ideologie tatsächlich für kurze Zeit die Idee eines den Gang der Gesellschaft und den Lauf der Gestirne gleichermaßen regierenden »Gesetzes« postuliert worden war.
 
Die Leistungen Chinas erstrecken sich auf alle Gebiete, vor allem auf jene, in denen es auf genaue Beobachtung und praktische Anwendung ankam. Das gilt beispielsweise für die schon ganz früh erreichten, besonderen Kenntnisse in der Kartographie, der Ackerbaukultur und namentlich natürlich der Seidenherstellung, die China ja in Eurasien als das Land der »Seidenleute« (lateinisch: Seres) bekannt machte. Nicht weniger erfolgreich war die chinesische Wissenschaft in Disziplinen, die zugleich ein größeres Abstraktionsvermögen erforderten, selbst wenn Intention und Theorie modernen wissenschaftlichen Vorstellungen nicht genau entsprachen. Charakteristisch ist hier etwa - um nur einige wenige Beispiele zu nennen - der hohe Stand der Astronomie, die, wenngleich anfangs von der Astrologie nicht getrennt, bereits im 14. Jahrhundert v. Chr. das Auftauchen einer Nova (eines Sterns mit einer plötzlichen starken Helligkeitszunahme) vermerkte. Auch Kometen wurden, wie Grabfunde beweisen, spätestens seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. nicht nur registriert, sondern auch bildlich festgehalten, ebenso wie bestimmte, für wesentlich angesehene Sternkonstellationen; die westliche Astronomie zieht daher bei der Rekonstruktion von historischen Himmelsereignissen nicht selten chinesische Daten, die natürlich später in noch größerer Ausführlichkeit weitergeführt wurden, zum Vergleich heran. Die Aufstellung und Kontrolle des Kalenders, die mit der Astronomie in engem Zusammenhang stand, regte, unabhängig von den ursprünglich astrologischen Motiven, aus kultischen Gründen zu der Beschäftigung mit diesem Wissenschaftsgebiet an. Auch die Zeitmessung erreichte schon früh einen sehr hohen Stand: Nachdem man schon im 2. Jahrhundert n. Chr. mechanische Modelle mit ständig rotierenden »Himmeln« erfunden hatte, wurden im frühen 8. Jahrhundert hydromechanische Uhrwerke entwickelt, die den Entwicklungen im Westen weit voraus waren.
 
Eine hinsichtlich des allmählichen Übergangs von Pseudowissenschaft zu exakter Wissenschaft mit der Astronomie vergleichbare Geschichte durchlief die Chemie in China. Aufbauend auf älteren, bereits recht beachtlichen Kenntnissen nahm die Forschung auf diesem Gebiet seit dem 4./5. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung durch die vom Daoismus inspirierte Suche nach der »Pille der Unsterblichkeit«, die ewiges Leben ebenso verleihen wie einfaches Metall in Gold verwandeln sollte, wobei die Unveränderbarkeit des Goldes, sein »Nichtrosten«, als Bindeglied zwischen beiden Eigenschaften angesehen wurde. Obwohl alle Mühen der Alchimie (die durch die Vermittlung der Araber mit einiger Zeitverschiebung dann ja auch nach Europa kam) vergeblich blieben, verliehen sie dem Wissensstand in der Chemie starke Impulse. Die schon erwähnte Erfindung des Schießpulvers sowie die des Porzellans liefern dafür einen überzeugenden Beweis.
 
Die größten Erfolge hatte die chinesische Naturwissenschaft jedoch auf dem Gebiet der Medizin zu verzeichnen, die deren »organischem« Grundansatz kongenial war. Das gilt vielleicht noch weniger für die hochdifferenzierte Wissenschaft von den Heilpflanzen, die schon früh einen Spitzenplatz errang und verteidigte, wohl aber für die raffinierte Pulsdiagnose und ganz besonders für die in ihrer Theorie absolut einzigartige Akupunktur und die Moxibustion, die den menschlichen Körper nun tatsächlich im Sinne eines »Feldes« betrachten, dessen sämtliche Punkte miteinander auf komplizierte Weise vernetzt sind. Dieser vorbildlose Therapieansatz, hinter dem ein geschlossenes Gedankensystem steht, hat dafür gesorgt, dass die chinesische Medizin eine selbstständige, bis heute gültige Stellung gegenüber der westlichen Medizin einnimt, die eine seriöse, mehr und mehr verwirklichte Zusammenarbeit zwischen beiden ermöglicht.
 
Der naturwissenschaftlich-technische Austausch zwischen Ost und West begann schon Ende des 16. Jahrhunderts mit der Tätigkeit der Jesuitenpatres am chinesischen Kaiserhof. Er beeinflusste in China vor allem Astronomie, Kartographie und Waffenkunde, bis gegen Mitte des 18. Jahrhunderts die Jesuiten ihre Mission beenden mussten. Die erneute Begegnung mit der inzwischen übermächtig gewordenen westlichen Naturwissenschaft stand (ausgesprochen oder nicht) unter einem feindlichen Aspekt. Die - letztlich unausweichliche - Übernahme dieses »westlichen« Denkens empfanden viele konservative Gelehrte als Verlust der chinesischen Identität, was 1923 in einer berühmten, die ganze Nation erregenden Debatte über das Verhältnis von »(westlicher) Naturwissenschaft gegenüber (chinesischer) humanistischer Lebensauffassung« zutage trat.
 
Prof. Dr. Wolfgang Bauer (✝)
 
 
China, eine Wiege der Weltkultur. 5000 Jahre Erfindungen und Entdeckungen. Ausstellung des Roemer- und Pelizaeus-Museums vom 17. Juli bis 27. November 1994, herausgegeben vonArne Eggebrecht. Mainz 1994.
 Watson, William: China. Kunst und Kultur. Ins Deutsche übertragen von Ruth Herold u. a. Farbphotographien von Jean Mazenod u. a. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.

Universal-Lexikon. 2012.

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